Zurück in der Spur

15.11.2019 11:09

Zurück in der Spur

Jérémy Guillemenot wechselte mit 18 Jahren vom Servette FC in die Nachwuchsakademie des FC Barcelona – und ist nun via Wien beim FC St. Gallen gelandet. Der Schweizer U21-Nationalspieler findet sich in der Super League immer besser zurecht.

Der Teenager war der breiten Öffentlichkeit kein Begriff, aber Insider wussten damals viel Gutes über den Nachwuchsstürmer zu berichten, der in Genf  Tor um Tor für den Servette FC erzielte und auf dem Platz so ganz anders war als daneben, unerschrocken, selbstbewusst, zielorientiert. Und der als junger Mann im Sommer 2016 loszog nach Barcelona mit dem Selbstbewusstsein, eines Tages die ganz grosse Bühne zu betreten…aber jetzt ist er zurück in der Schweiz, zurück in der Realität. So nahe Jérémy Guillemenot damals Lionel Messi und Luis Suarez war, so weit entfernt waren die Stars eben auch. Der Traum, den so viele Junge träumen, platzte. Vorerst. Und nun geht es darum, in der Heimat die ins Stocken geratene Karriere wieder in Schwung zu bringen, nicht im Westen des Landes bei Servet- te, sondern im Osten beim FC St. Gallen.

Bickels erster Anlauf
21 ist er inzwischen, immer noch jung, aber es ist Einiges passiert in den ver-gangenen drei Jahren, einiges, auf das der Genfer gut verzichten könnte. Bevor er ging, unternahm Fredy Bickel einen Versuch, ihn vom Wechsel abzuhalten. Bickel war Sportchef bei YB, er empfahl Guillemenot einen Zwischenschritt, den so genannten «Schweizer Weg», einzuschlagen. Aber sein gut gemeinter Ratschlag verhallte ungehört. Die Offerte aus Spanien war zu verlockend, um sie abzulehnen. Guillemenot fragte einmal rhetorisch: «Wer könnte so ein Angebot von einem solchen Club ausschlagen?»

Guillemenot bekam einen Platz in der weltberühmten Jugendakademie «La Masia», dort, wo einst Lionel Messi ausgebildet worden war. Dafür gab der Sohn einer portugiesischen Lehrerin und eines französischen Bildtechnikers das Gymnasium auf. Aus dem Schüler wurde über Nacht ein Profi, aber das war nicht gleichbedeutend mit dem Durchbruch. Nach zwei Jahren endete das Abenteuer in Barcelona, nach ein paar Einsätzen für die U19 und die zweite Mannschaft des Clubs sowie nach ein paar Monaten auf Leihbasis beim unterklassigen CE Sabadell. Wie weiter nun mit einem Spieler, der doch als grosses Talent gepriesen wurde? Dem scheinbar die Türen zur grossen Welt offenstanden?

Das Pech bei Rapid
Fredy Bickel war inzwischen Sportdirektor bei Rapid Wien, rief Guillemenot an und bot ihm im Sommer 2018 an, nach Österreich zu kommen. Er willigte ein, und Bickel bat Trainer Goran Djuricin, den  Neuen  aufzubauen,  weil er glaubte: «Er hat ein enormes Potenzi-al. Er kann das abrufen, wenn er wieder im Rhythmus ist.» Guillemenot spielte ein paar Mal, es sah tatsächlich so aus, als könne er aufblühen, wenn er Zeit bekäme. Aber dann geriet Rapid in Schwierigkeiten: Die positiven Resultate blieben aus, der Trainer kam mehr und mehr unter Druck, bis es nur noch einen Ausweg gab: die Trennung. Für Djuricin übernahm Dietmar Kühbauer, ein ehemaliger Nationalspieler Österreichs. Und das war der Anfang vom Ende für Guillemenot bei Rapid. Nach dem ersten Training wurde Kühbauer bei Bickel vorstellig und nannte ihm die Namen von Spielern, mit denen er nichts anzufangen wusste. Einer von ihnen: Jérémy Guillemenot. «Bei ihm komme ich nicht draus», sagte er, «ist er ein Flügelstürmer? Ein Zehner? Ich weiss es nicht.» Er drückte damit aus: Für ihn ist fortan kein Platz mehr in der Mannschaft. Bickel plagte das schlechte Gewissen. Er war davon ausgegangen, Guillemenot nach dessen Abstecher nach Barcelona neue Perspektiven bieten zu können – und dann dieses gnadenlose Urteil des Trainers. Bickel spürte, wie der Spieler jegliches Selbstvertrauen verlor, wie er den Kopf hängen liess, wie es ihm zusetzte, dass für ihn einfach keine Verwendung war. Und er, der Sportdirektor, fühlte sich mitverantwortlich dafür. Aber er bemühte sich darum, eine geeignete Lösung zu finden. Und die hiess eben: FC St. Gallen.

Unter Zeidler auch Zehner
Der Neustart in der Ostschweiz, wo er einen Vertrag bis 2021 unterschrieb, begann Ende Januar dieses Jahres. Bis im Sommer brachte er es in elf Partien auf drei Treffer, seine Position war primär die der Sturmspitze. In dieser Saison kam eine neue Rolle hinzu: Trainer Peter Zeidler nominierte ihn auch als «Zehner» hinter den zwei Angreifern. Der Schweizer U21-Nationalcoach Mauro Lustrinelli, der Guillemenot vor einem Jahr erstmals in seine Auswahl berief, glaubt, dass der Wechsel zu St. Gallen genau der richtige Entscheid war. «Als Spieler musst du dich in deiner Umgebung auch wohlfühlen, um dein bestes Niveau zu erreichen», sagt er, «bei Jérémy macht es den Anschein, dass dieser Faktor stimmt. Ich bin zuversichtlich, dass er sich unter Peter Zeidler bei St. Gallen gut entwickeln wird.»

Für Lustrinelli ist Guillemenot ein Stürmer, der sich nicht nur darauf beschränkt, in der Offensive in Erscheinung zu treten, sondern auch bereit ist, Arbeit in der Defensive zu verrichten. Und er bringt auch die Qualität mit, im offensiven Mittelfeld eingesetzt zu werden. «Er interpretiert auch diese Aufgabe richtig gut», sagt Lustrinelli, der Guillemenot bislang in sieben U21-Länderspielen berücksichtigte (je einen Treffer gegen Kroatien und Slowenien). In St. Gallen berichten die Verantwortlichen Positives über Guillemenot. «Er versteht das, was er bei uns hat, als Riesenchance», sagt Stefan Wolf, ehemaliger Nationalspieler und im Verwaltungsrat des FCSG für den Bereich Sport zuständig und bestätigt das, was Lustrinelli sagt: «Er braucht ein Umfeld, das ihn unterstützt, er braucht Kollegen, die ihm helfen – und wenn er das hat, gibt er sehr viel zurück. Er läuft unheimlich viel und scheut keinen Zweikampf.»

Als Guillemenot im Winter nach St. Gallen kam, benötigte er eine gewisse Anlaufzeit. «Aber er hat sich sehr schnell integriert», sagt Wolf,  «und er ist für uns auch deshalb sehr wertvoll, weil er ein echter Teamplayer ist. Er ist nicht ein Stürmer, dem primär die eigenen Skorerpunkte wichtig sind, sondern die Erfolge der Mannschaft.»

(Rotweiss/ds)